Weiße Weste II

Ein fahles, abgeschlagenes Oval schaut mich mit trübem Blick an. Die tiefblauen Augen, neblig verhangen, sprechen von Überforderung und Frust. 

Mein Kopf fühlt sich an wie ein überfrequentierter Erlebnispark: Pochen, Sausen und undefinierbarer Lärm dröhnen durcheinander. Wechseln sich ab, um sich dann wieder zu überlagern. Ich seufze: »schlaf-arme Nächte sind wie Hyänen. Du kannst sie nicht freilassen und hoffen, sie würden dich ignorieren«. 

Ich trete näher an das Oval und sehe grobporige Haut an den Wangen. Feine Falten, die sich überkreuzend um die Augen sammeln. Ein paar geplatzte Äderchen und zu trockene Haut. Ich kenne es nicht, dieses blasse Oval im Spiegel. Wo ist mein vitales, dynamisches Ich? Die junge Frau mit frischem Teint, dem Glanz der Neugierde und Verwegenheit im Gesicht. Prall an Erwartung und Abenteuerdrang. Mir wird die Brust schwer. Hastig versorge ich das Oval mit Tagescreme, Primer und Make-Up. Den fettigen Haaransatz verstecke ich rasch unter einem Zopf aus Gel und Haarspray, da krächzt es schon aus dem Kinderzimmer. Es ist die dritte Woche, dass die Mädels krank sind. Nur Teresa ist wieder auf den Füßen, was es aber nun mal nicht leichter macht. Ich gehe in ungeweinten Tränen unter. Haste ins Kinderzimmer. Die »Mama, sei da«-Routine nimmt seinen Lauf. Trotz aller Anstrengung stolpere ich mittags immer noch über kleine Pullis und Strumpfhosen im Flur, hier eine Socke, da ein Lätzchen. Die Kochtöpfe stehen mit Speiseresten und dreckigen Tellern zu einer grotesken Pyramide geformt, neben müden Kräutertöpfen und allem möglichen anderen Zeug an einem Ort, den ich nicht mehr Küche nennen mag. Das Lärmen in meinem Kopf hat Primetime: dumpfes Pochen in den Schläfen nimmt weiter zu. Mir wird schwindelig. 

Die Tür schnellt auf und Teresa knallt ihre dreckigen Straßenschuhe neben den Esstisch, obwohl ich es ihr schon hunderte Mal verboten habe. Ich weiß, bevor sie die Wohnung betritt, wie sie drauf ist. Wie sie die Haustür aufschließt spricht Bände. Teresa und ich driften auseinander wie zwei Kontinente. Tag um Tag. Ich hatte mir die Pubertät einfacher vorgestellt. Jetzt bricht die Realität über mich herein wie ein Meer ohne Boden. Ich fühle mich den Gezeiten ausgeliefert – eine kleine Nussschale, die in allem ertrinkt. Dabei wäre ich so gerne ein Kahn; ein Frachter. Oder einfach eine Insel.

Ich lasse Teresa 10 Minuten Zeit im Zimmer – mit schreiend lauter Musik, die womöglich die Kleinen weckt. Dann gehe ich hin: »Hi, Süße«. Das ist heute schon zu viel. Sie rastet aus. Es nutzt nichts, ich breche in ihr Poltern ein: »Schluss jetzt! Du machst sofort die Musik leise. Und räum‘ deine Schuhe vor die Tür!« »Rudi hört seine Musik auch wie er will!« keift sie. 

Rudi wohnt über uns. Er ist im Gegensatz zu Teresa nicht 13, sondern mindestens 40. Und außer, dass wir im gleichen Haus wohnen, hat er nichts mit unserer Familie zu tun. Ein hageres Männchen, mehr Echo und Schatten als Existenz. Seine immer grauen, löchrigen Pullover atmen eine beißende Mischung aus Patschuli und Lambrusco samt einer feinen Knoblauchnote. Auch wenn er nur selten durchs Haus starkst, hallt sein Mief lange nach. Seine Wohnung stelle ich mir wie die Überreste aus einer anderen Welt vor. Dunstige Räume voller sehnsuchtsgeladener Träume, die verstaubt vor sich hin welken. Wie ein Museum für virtuos verpackte Illusionen. Er ist Berufsmusiker - jedenfalls glaubt er das. Wenn das Geld mal wieder nicht für den Proberaum reicht, haben wir auch was von seinem Talent. Seine Klingel verliert wunderlicher Weise genau an diesen Tagen jegliche Funktion. 

In meinen miesen Phasen male ich mir seine eingefallene, magere Silhouette aus. Vor meinem inneren Auge beginnt dann etwas wie Malen nach Zahlen: ich fülle den Umriss mit anthrazit und schwarz, betone die hängenden Schultern und mache mir bewusst, dass ich nie so tief fallen werde wie er. Dann rückt sich meine kleine Welt wieder ein Stückchen zurecht, obwohl sich Wäscheberge stapeln und es für uns Große nur Lieferboten-Pizza zum Mittag gab statt anständig Gekochtes. Immerhin bringe ich meinen Anteil in die Gesellschaft ein, liege niemandem auf der Tasche und verausgabe mich pflichtbewusst darin, meine Kinder mittels guter Erziehung ins Erwachsen werden zu führen. Wenn ich nur daran denke, wie lange ich mich damit herum schlug, auf welche Schule Teresa gehen sollte. Ganz zu schweigen von den täglichen Belastungen und Entbehrungen. Den Wunsch auf berufliche Selbstverwirklichung habe ich meinen Kindern geopfert – nicht wie meine Schwester. Was für Zustände bei ihren Kids herrschen, nur weil sie im Job nicht kürzer treten will. 

Ja, eine derartige Selbstlosigkeit, die mein tägliches Brot ist, strandet sicherlich vor Rudi‘s Verstand ohne jemals Zutritt zu erlangen. Außer in Form theoretischer Abhandlungen: »Altruismus á la Erich Fromm« oder so. 

Tja, Teresa meint den Musik-Vergleich zu Rudi ernst. Mir ist es ein Rätsel wie sie Rudi immer wieder ernsthaft zum Maßstab nehmen kann. Was geht nur in ihrem Kopf vor?! Das frage ich mich bei meinem auch – der flimmert und quietscht was das Zeug hält. Wie ein Kapazitäten-reicher Lagerraum an sich selbst entzündenden Knallkörpern. Die Stirn drückt, presst meinen Kopf nieder, als solle der Hals weichen. »Keine Diskussion« presse ich hervor – mehr fällt mir nicht ein.

Das ist nicht unser letztes Gerangel für heute. Wie so oft entscheidet unsere erste Begegnung nach der Schule über den Verlauf wie wir den Rest des Tages miteinander auskommen. Als wäre unsere Beziehung dann eine aufgerissene Halskette: geht die erste Perle wie ein Hagelkorn zu Boden, lösen sich auch die anderen nach und nach. Ach, diese Kette scheint mir so unendlich lang. Ein farbloser Ozean ohne Horizont. Grau in Grau. Ich frage mich wie lang meine Pubertät war. Mama, wenn ich dich nur fragen könnte.

Das Ächzen der Kleinen ruft mich an ihr Bett. 

Als es später Kohlsuppe, statt Pommes gibt, sinken Teresa‘s Mundwinkel gen Erdkern. Ich konfisziere ihr Handy, damit sie Hausaufgaben macht. Abends liegen Teresa‘s Mappen und Hefte immer noch auf dem Küchentisch herum. Ich erwische sie mit meinem Tablet. Mir wird schwarz vor Augen. Plötzlich fiept mein Ohr. Der Rest meines Körpers scheint leblos. 

Als sich die Unordnung ihres Zimmers weiter in die Wohnung verlängert, konfrontiere ich sie: »Du räumst das jetzt auf.« Sie bockt. Dann, voller Überzeugung: »Lena und Karo räumen auch nie was weg!«

Lena und Karo…Ihre Schwestern…2 ½ und fast 4. 

Ein Schmerz hämmert durch meinen Schädel. Meine Brust scheint zu platzen. Als wolle sich die Seele einen Weg bahnen und treppab stürzen. 

Ich schaue sie an und suche nach Worten, die es nicht gibt.